Prof. Dr. Karl-Werner Hansmann


Gewinnt Italien das Pokerspiel gegen die EU-Kommission?

 

Hamburger Abendblatt vom 27. November 2018

In jüngster Zeit hat die politische und wirtschaftliche Lage in Italien die ungeteilte Aufmerksamkeit der Medien auf sich gezogen. Übereinstimmend wird beklagt, dass die italienische Regierung im Jahr 2019 erheblich mehr Schulden machen wolle, um die Wahlversprechen der ungleichen Koalitionspartner, rechte Lega und linke Fünf Sterne-Partei, zu verwirklichen. Die EU-Kommission hat den italienischen Haushaltsentwurf abgelehnt und inzwischen ein  Defizit-Verfahren gegen Italien angekündigt.


Es ist daher an der Zeit, den geplanten Staatshaushalt der italienischen Regierung für 2019 unvoreingenommen zu prüfen und seine ökonomische Wirkung auf die Europäische Union zu analysieren. Italien hat traditionell eine hohe und durch jährliche Haushaltsdefizite kontinuierlich gewachsene Staatsverschuldung, die 2018 mit 2,28 Billionen Euro ihren höchsten Stand erreicht hat. Um Staatsschulden verschiedener Länder vergleichen zu können, beziehen Ökonomen die Schulden auf die Wirtschaftskraft eines Landes, die durch das Bruttoinlandsprodukt (BIP) gemessen wird. Diese sog. relative Staatsverschuldung beläuft sich jetzt in Italien auf 130 Prozent des BIP. Das ist der zweithöchste Wert aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union, der nur von Griechenland übertroffen wird. Als wirtschaftlich vertretbar werden 60 Prozent des BIP angesehen, was Deutschland im nächsten Jahr erreichen wird. Dieser Wert ist als Schuldenobergrenze auch im Maastricht-Vertrag festgeschrieben. Um die immense Verschuldung Italiens wenigstens etwas zu verringern, hatte die EU-Kommission mit der vorangegangenen Regierung vereinbart, das Haushaltsdefizit auf maximal 0,8 Prozent des BIP zu begrenzen. Das würde bei einer geschätzten Wachstumsrate der Wirtschaft von 1,2 Prozent die Schuldenquote immerhin etwas senken.


Die neue italienische Regierung will aber nun das Haushaltsdefizit auf 2,4 Prozent verdreifachen, um möglichst viele Wahlversprechen zu erfüllen. Da dies die Schuldenquote erneut steigern würde, droht die EU-Kommission zu Recht mit einem Strafverfahren. Wird sie damit Erfolg haben? Ich glaube eher nicht, und zwar aus zwei Gründen: Erstens haben die italienischen Regierungsparteien vor der letzten Wahl riesige Versprechungen gemacht, nämlich ein garantiertes Grundeinkommen für alle, eine radikale Steuersenkung für Unternehmen und die Rücknahme  der schon beschlossenen Rentenreform, die ein höheres Renteneintrittsalter vorsah. Würden alle Wahlversprechen ab 2019 verwirklicht,  müsste die Regierung gut 100 Milliarden Euro zusätzlich aufbringen, was das Haushaltsdefizit auf sechs Prozent des BIP katapultieren würde. Das ist natürlich absurd, aber die Regierung kann es sich auch nicht leisten, alle Wahlversprechen einzukassieren und das Defizit auf 0,8 Prozent zu belassen. Daher wird sie in den Verhandlungen mit der EU so viel wie möglich herausholen wollen, wobei 2,4 Prozent ein Ziel ist, das man den eigenen Wählern gerade noch verkaufen kann. Mehr ist nicht drin, weil schon bei der Ankündigung dieses Defizits eine heftige Reaktion des Kapitalmarkts eintrat: Der Zinssatz, den Italien für zehnjährige Staatsanleihen zahlen muss, verdoppelte sich von 1,7 Prozent vor der Regierungsbildung auf jetzt 3,4 Prozent (Deutschland 0,5 Prozent). Da Italien in den nächsten zwei Jahren fällige Anleihen von rund 200 Milliarden Euro refinanzieren muss, belasten die höheren Zinsen den Haushalt zusätzlich.


Auf der anderen Seite hat aber auch die EU-Kommission ein Problem, ihre strengen Vorstellungen gegenüber Italien vollständig durchzusetzen. Sie hat gerade das seit 2009 gegen Frankreich anhängige Defizit-Verfahren wegen Überschreitens der Drei-Prozent-Grenze von Maastricht beendet, weil Frankreich sein Haushaltsdefizit 2017 auf 2,6 Prozent und 2018 voraussichtlich auf 2,3 Prozent gedrückt hat. Die EU-Kommission befürchtet jedoch, dass der positive Trend weitgehend auf steuerlichen Einmal-Effekten und der guten Konjunktur beruht und prognostiziert für 2019 einen erneuten Anstieg auf 2,8 Prozent. Das ist eine Steilvorlage für die italienische Regierung, die nun wie folgt argumentieren kann:  Wenn die EU-Kommission ein französisches Haushalts-Defizit von 2,8 Prozent  toleriert, dann sind wir doch mit 2,4 Prozent recht bescheiden. Die Kommission wird uns nicht zwingen können, mehr zu sparen, da ein Strafverfahren von allen Ländern des Euroraums beschlossen werden muss.


Dieses Pokerspiel bei den Verhandlungen wird nach meiner Einschätzung so enden: Die EU-Kommission erlaubt Italien für 2019 ein Haushalts-Defizit von mehr als zwei Prozent (wahrscheinlich in der Tat 2,4 Prozent), wenn die italienische Regierung verspricht, das Defizit in den folgenden Jahren wieder abzusenken. Solche wertlosen Versprechungen gab es in der EU schon häufig.


Die Populisten in der italienischen Regierung verspielen damit die einmalige Chance, die exorbitanten Staatsschulden zu senken und das Problem der notleidenden  Privatkredite von 187 Milliarden Euro anzupacken. So wird Italien weiterhin eine Gefahr für Europa bleiben. Bei einer künftigen Rezession und steigender Zinsbelastung wäre der europäische Rettungsschirm (ESM) zu klein, um die viertgrößte Volkswirtschaft der EU zu retten. Ein Ausscheiden Italiens aus dem Euroraum mit unabsehbaren Folgen für den Euro wäre die Konsequenz.

 

 

 

Prof. Dr. Karl-Werner Hansmann


Gerechte Besteuerung geht anders
Die Programme der Parteien zur Bundestagswahl


Hamburger Abendblatt vom 19. September 2017



Rechtzeitig zur kommenden Bundestagswahl am 24. September haben die großen Volksparteien CDU, CSU und SPD in ihren Wahlprogrammen Änderungen des Einkommensteuertarifs vorgeschlagen. Fast gleichlautend wollen alle drei Parteien die kleineren und mittleren Einkommensbezieher steuerlich deutlich entlasten. Das ist nicht verwunderlich, da die Bundestagswahl in der gesellschaftlichen und ökonomischen „Mitte“ entschieden wird, die außer Facharbeitern und mittleren Angestellten auch selbständige Berufe, den sog. Mittelstand, umfasst. Eine Steuererleichterung für diese Wählerschaft kann daher eine erfolgversprechende Strategie sein, nur wie soll man sie  richtig umsetzen?


Alle drei Parteien haben dafür konkrete – allerdings voneinander abweichende - Vorschläge gemacht, aus denen man mit Hilfe mathematischer Berechnungen die individuelle Entlastung der Steuerpflichtigen sowie den Einnahmeverlust des Staates schätzen kann. Bei diesen Vorschlägen haben die Parteistrategen aber offensichtlich die Tücken des deutschen  Lohn- und Einkommensteuertarifs  unterschätzt.


Seit Jahrzehnten haben wir in Deutschland einen progressiven Steuertarif. Das bedeutet, dass nicht alle Steuerzahler auf ihr Einkommen den gleichen Prozentsatz an Steuern zahlen, sondern höhere Einkommen prozentual stärker belastet werden. Das ist Absicht und beruht auf dem sozialstaatlichen Prinzip, Bezieher höherer Einkommen stärker, d.h. überproportional, zur Finanzierung der staatlichen Aufgaben heranzuziehen als weniger einkommensstarke Personen.


Durch die gute Konjunktur sind die Steuereinnahmen inzwischen so gewachsen, dass der Ruf nach einer Steuerentlastung laut wird, dem die Volksparteien nun folgen. Dabei stoßen sie auf das erste Problem unseres komplexen Steuersystems:  In einem progressiven Steuertarif werden höhere Einkommen mit einem höheren Eurobetrag entlastet als geringere nach dem Motto: Wer mehr bezahlt hat, erhält auch mehr zurück. Das
widerspricht aber schon dem Ziel der Parteien, die unteren und mittleren Einkommensgruppen stärker zu entlasten. 


Ein zweites Problem ist allerdings noch gravierender: Der sogenannte Mittelstandsbauch. Um dieses Phänomen zu verstehen, ist es ratsam, nicht das Gesamteinkommen und die darauf zu zahlende Steuer zu betrachten, sondern nur die Steuer, die auf einen zusätzlich verdienten  Euro zu zahlen ist. Dieser Steuersatz wird im Fachjargon als Grenzsteuersatz bezeichnet, weil  er sozusagen an der oberen „Grenze“ des Einkommens erhoben wird. Man kann damit z.B. sofort erkennen, wie Lohn- und Gehaltserhöhungen steuerlich belastet werden. Nun kommt die Crux: Im deutschen Steuersystem steigt der Grenzsteuersatz bei niedrigen Einkommen stärker als bei mittleren, aber gar nicht mehr bei höheren Einkommen. Das ist nach dem Sozialstaatsprinzip widersinnig. Da der Mittelstand von diesem Verlauf des Grenzsteuersatzes stark belastet wird, hat sich die Bezeichnung Mittelstandsbauch eingebürgert, der die Form eines Spitzbauches hat.


Ein solcher Verlauf des Steuertarifs ist durch nichts gerechtfertigt und widerspricht total dem Ziel einer gerechten Besteuerung. Seine Beseitigung wäre das Gebot der Stunde. Genau das tun die Parteien in ihren Wahlprogrammen nicht. CDU und SPD specken zwar den Spitzbauch etwas ab, lassen aber die Form unverändert, während die CSU immerhin die Spitze etwas abflacht. Die SPD versucht das zu korrigieren, indem sie den Solidaritätszuschlag für niedrige Einkommen abschaffen und den Grenzsteuersatz für höhere Einkommen anheben will.


Ein zielorientierter und auch sachlogischer Steuertarif sieht anders aus: Der Grenzsteuersatz sollte progressiv ansteigen, d.h. bei niedrigen Einkommen langsamer und in Richtung höheren Einkommen immer stärker. Wird der Anstieg bis zum heutigen Höchstsatz von 45% fortgeführt, so zeigen meine Berechnungen, dass die Einkommen im mittleren Bereich (zwischen 35 und 45 Tausend Euro pro Jahr) prozentual am meisten entlastet werden, was dem Ziel der Parteien nahe kommt. Durch die große Zahl der entlasteten Einkommensbezieher würden die Staatseinnahmen zwar zunächst um etwa 25 Milliarden Euro jährlich sinken. Dies würde jedoch durch den zusätzlichen Wachstumsimpuls der Steuersenkungen mittelfristig zum großen Teil kompensiert.

 

 

Prof. Dr. Karl-Werner Hansmann

 

Schluss mit der künstlichen Geldvermehrung!

Die großen Notenbanken, allen voran die EZB, schädigen mit ihrer Politik die Sparer – und die Volkswirtschaft

Hamburger Abendblatt vom 18. August 2016

In die Geldpolitik der westlichen Notenbanken ist seit kurzem wieder Bewegung gekommen. Als Antwort auf den Volksentscheid zum Brexit, der wahrscheinlich  zu einer britischen Rezession führt, hat die Bank of England am 4. August ihren Leitzins auf 0,25% halbiert sowie ihr Programm zum Aufkauf von Staatsanleihen wieder aufgenommen. Damit nähert sie sich weiter der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) an, die schon im März ihren Leitzins auf  0,0% gesenkt und das gigantische Aufkaufprogramm von Staatsanleihen noch mal um ein Drittel auf 80 Mrd. Euro erhöht hat.

Diese Geldschwemme senkt die Verzinsung aller Staatsanleihen in der Eurozone und hat inzwischen zu der skurrilen Konsequenz geführt, dass die bekannte Bundesanleihe mit zehnjähriger Laufzeit eine negative Rendite von -0,1% abwirft. Das bedeutet: Will man dem deutschen Staat für zehn Jahre einen Kredit von 1000 Euro geben, dann muss man noch einen Euro drauf zahlen, damit man das überhaupt darf. Kurzfristige Anleihen haben noch eine stärkere negative Verzinsung. Nimmt man noch den Einlagenzinssatz der EZB von -0,4%, den Banken bezahlen müssen, wenn sie Geld bei der EZB deponieren, hinzu, kann man sagen, dass Kapitalanleger heute nur noch Geld verlieren.

Diese perverse Situation trifft Banken, Versicherungen, Pensionsfonds, Stiftungen sowie alle Sparer, die für ihre Zukunft vorsorgen wollen, äußerst hart. Der Unmut darüber ist in weiten Bevölkerungskreisen unüberhörbar. Er ist aber auch ökonomisch begründet, denn Kapital entsteht durch Konsumverzicht, und dafür muss der Sparer belohnt werden. Wenn er durch einen negativen Zins bestraft wird, ist das ökonomisch unsinnig. Die Notenbanken tun aber genau das. Die EZB hat ihre Bilanzsumme innerhalb von zwei Jahren um knapp 60% auf 3,2 Billionen Euro erhöht, die japanische Notenbank um etwa den gleichen Prozentsatz. Die amerikanische Notenbank (Fed) sitzt nach wie vor auf einem gigantischen Geldvolumen von  4,4 Billionen Dollar.

Ein solches die Sparer schädigendes Verhalten wäre allenfalls zu rechtfertigen, um überragende gesamtwirtschaftliche Ziele zu erreichen. Die Notenbanken behaupten unisono,  durch die extreme Geldvermehrung könne eine gefährliche deflationäre Abwärtsspirale der Wirtschaft verhindert werden. Ziel sei es daher, die Inflationsrate in den „sicheren“ Bereich von zwei Prozent zu bringen und durch extrem niedrige Zinsen die Kreditvergabe der Banken an Unternehmen anzukurbeln und dadurch Investitionen und Wachstum zu fördern. Schon vor zwei Jahren haben meine ökonometrischen Analysen starke Zweifel daran aufkommen lassen, dass die Ziele der Notenbanken mit diesen Maßnahmen erreicht werden können. Heute zeigen die Fakten, dass alle Notenbanken ihre Ziele verfehlt haben. Die Inflationsraten betragen aktuell in der Eurozone 0,1%, in den USA 1,0% und in Japan sogar -0,4% und sind damit weit vom angestrebten Ziel 2% entfernt. Auch die Kreditvergabe der Banken an die Wirtschaft ist viel zu schwach und hat die Investitionen nicht gestärkt. Die schärferen Regeln für die Eigenkapitalausstattung der Banken sowie eine übermäßige Regulierung bremsen die Kreditvergabe zusätzlich, was durch künstlich niedrige Zinsen nicht ausgeglichen werden kann.

Wohin ist nun das künstlich geschaffene Geld geflossen?  Im Wesentlichen in den Aktienmarkt und in Immobilien. Der deutsche Aktienindex DAX schwimmt auf einer Welle künstlicher Liquidität und befindet sich etwa 15% über dem Niveau, das durch ökonomische Faktoren wie Unternehmensgewinne, Geschäftserwartungen und Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bestimmt wird. Auf dem Immobilienmarkt sehen wir Preissteigerungen, die besonders in den bevorzugten Wohngebieten führender deutscher Städte weit über die Mietsteigerungen hinausgehen und damit eindeutig spekulativ sind. Genauso haben die Immobilienpreis-Blasen in Spanien und den USA begonnen, und wir wissen, wozu sie geführt haben.

Man kann den Notenbanken, insbesondere der EZB nur dringend raten, den gefährlichen Weg der künstlichen Geldvermehrung unbedingt zu verlassen und Geldvolumen und Zinsen wieder auf ein ökonomisch vernünftiges Niveau zurückzuführen. Nachhaltiges Wachstum kann nicht durch uferlose Geldvermehrung sondern nur durch energische Strukturreformen erreicht werden. Hierfür ist allerdings die Politik verantwortlich, die sich jedoch gern hinter den Notenbanken versteckt.

 

 

 

 

Prof. Dr. Karl-Werner Hansmann

 

 Die Vorteile des Flüchtlingszustroms

Rein ökonomisch wird Deutschland von den Migranten profitieren – jedenfalls von etwa 2020 an.  Schon heute gibt es Wachstumsimpulse.

Hamburger Abendblatt vom 30. Dezember 2015

 

Seit der spektakulären Öffnung der deutschen Grenzen für Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und der zunächst sehr leidenschaftlichen Debatte über diese umstrittene Entscheidung der Bundesregierung haben sich neue Fakten und Entwicklungstendenzen ergeben, die eine sachliche Beurteilung der Zuwanderung zumindest ansatzweise ermöglichen. Die Welle der Hilfsbereitschaft sowie der bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit gehende Einsatz der ehrenamtlichen Helfer und staatlichen Dienststellen bleiben die herausragenden Pfeiler zur Bewältigung des Flüchtlingsproblems. Dabei ist allen klar, dass der Zustrom nicht auf dem aktuellen Niveau von einer Million Menschen pro Jahr bleiben kann, sondern deutlich reduziert werden muss.

Hierfür gibt es zum Jahreswechsel hoffnungsvolle Anzeichen: Die Zahl der Asylsuchenden ist im Dezember nicht nur wegen des Winters merklich gesunken. Strengere türkische Kontrollen, die allerdings mit drei Milliarden Euro von der EU erkauft wurden, und stärkerer Druck auf die Schlepper tragen ebenfalls dazu bei. Darüber hinaus wird der IS durch die Zerstörung seiner Ölkapazitäten und das Austrocknen seiner finanziellen Ressourcen durch die Antiterror-Allianz zunehmend geschwächt. Gelingt zusätzlich im neuen Jahr ein Waffenstillstand in Syrien mit UN-Mandat, wird sich die Zuwanderung so stabilisieren, dass eine seriöse Einschätzung ihrer wirtschaftlichen Folgen für Deutschland ermöglicht wird.

Ähnlich wie der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) gehe ich davon aus, dass der Zustrom von Asylsuchenden von einer Million Menschen in diesem Jahr  auf etwa 700.000 im kommenden Jahr sinken und in den Folgejahren weiter abnehmen wird. Auf der Grundlage dieser Zahlen möchte ich zwei ökonomische Aspekte der Zuwanderung beleuchten: einen kurzfristigen Wachstums-Impuls für 2016 und die mittelfristige Integration der anerkannten Asylbewerber in den Arbeitsmarkt.

Im Jahr 2016 schätze ich die staatlichen Ausgaben für Nahrung, Kleidung, Wohnung, Gesundheit, Ausbildung und Verwaltung der Migranten auf etwa 15 Milliarden Euro. Dieser Betrag belastet natürlich die öffentlichen Haushalte, erhöht aber gleichzeitig den privaten Konsum im Land und erzeugt dadurch einen Wachstums-Impuls für die deutsche Wirtschaft, der die Kosten deutlich mindert.

Auf Grund langjähriger Erfahrungen kann man annehmen, dass etwa die Hälfte der staatlichen Ausgaben als Nachfrage bei deutschen Unternehmen ankommt, die andere Hälfte fließt durch die Umsatzsteuer an den Staat und durch Importe ins Ausland. Die dadurch zusätzlich erzeugten Einkommen verstärken den Impuls noch etwas, so dass  nach meinen Berechnungen insgesamt etwa 60 Prozent der ursprünglichen staatlichen Ausgaben,  also neun Milliarden Euro, zu zusätzlichem Wachstum führen. Diesen Wachstums-Impuls muss man den Kosten gegenüber- stellen, um den ökonomischen Effekt richtig beurteilen zu können.

Betrachten wir nun die mittel- bis langfristigen Effekte. Es liegen langjährige Erfahrungswerte vor, wie viele Asylbewerber im Durchschnitt anerkannt werden und nach einer geeigneten Ausbildung erwerbsfähig und -willig sind.  Der Sachverständigenrat geht in seinen Berechnungen davon aus, dass bis 2020 etwa 500.000 dieser Personen dem deutschen Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und einen Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt leisten. Eine ähnliche Analyse hat das DIW  durchgeführt.

Das Ergebnis dieser Berechnungen ist ermutigend. Zwar übertreffen in den nächsten Jahren die staatlichen Flüchtlingsausgaben noch die positiven Wachstumsbeiträge, aber ab etwa 2020 tritt das Gegenteil ein. Durch den Beitrag der arbeitswilligen Asylbewerber zur Wirtschaftsleistung steigt der wirtschaftliche Vorteil der Flüchtlings-Zuwanderung stetig und erreicht nach vorsichtigen Prognosen langfristig über 20 Milliarden Euro pro Jahr. Dies zeigt, dass die Flüchtlings-Migration außer dem humanitären Aspekt auch einen positiven ökonomischen Aspekt aufweist.

Wir sollten daher die geordnete Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland als eine komplexe aber lösbare Aufgabe ansehen, die – wie eine Investition – zunächst Kosten verursacht, auf lange Sicht aber einen substantiellen Ertrag für Deutschland bringen wird.


 

 

Prof. Dr. Karl-Werner Hansmann

 

Griechische Umschuldung wäre Hoffnungsschimmer

Hamburger Abendblatt vom 18. Juli 2015

Nachdem in der dramatischen Nachtsitzung am letzten Sonntag die Staats- und Regierungschefs der Eurozone beschlossen haben, Verhandlungen über ein drittes Hilfsprogramm für Griechenland aufzunehmen, ist der Grexit zunächst abgewendet worden. Vor allem das griechische aber auch die anderen wichtigen Parlamente der Eurogruppe haben inzwischen den Brüsseler Beschlüssen zugestimmt. Die in dem Beschluss enthaltenen Reformvorgaben sind wesentlich härter als die zuvor von den Gläubigern verlangten und vom griechischen Volk im Referendum eindeutig abgelehnten Maßnahmen. Damit ist die von mir an dieser Stelle heftig kritisierte spieltheoretische Strategie des ehemaligen Finanzministers Varoufakis auf der ganzen Linie gescheitert und hat die griechische Lage mit Kapitalverkehrskontrollen und Schließung der Banken nur noch verschlimmert. Wie soll es nun weiter gehen?

Es besteht unter Ökonomen weitgehend Einigkeit, dass Griechenland neben einem kurzfristigen Überbrückungskredit von sieben Milliarden Euro ein drittes Hilfspaket von mindestens 85 Milliarden Euro (Schätzung des IWF), nach meinen Berechnungen sogar 100 Milliarden Euro für drei Jahre benötigt. Die Steigerung gegenüber den ursprünglich im Raum stehenden 50 Milliarden Euro ist hauptsächlich auf die wirtschaftliche Stagnation nach Bildung der Syriza-Regierung, das Ausbleiben von Privatisierungserlösen und der zweiwöchentlichen Bankenschließung zurückzuführen. Mit diesen neuen Krediten erreicht die Staatsschuldenquote Griechenlands den Rekordwert von 200% des Bruttoinlandsprodukts (BIP).

Diese Schuldenlast halte ich für untragbar. Unter den jetzigen Zins- und Tilgungskonditionen kann Griechenland die Gesamtsumme von 350 Milliarden Euro nicht zurückzahlen. Da ein Grexit, der übrigens die Schuldenlast nicht vermindert hätte, aus politischen Gründen jetzt erst einmal vom Tisch ist, bleiben noch zwei Strategien übrig: 1. ein sofortiger Schuldenschnitt von 50%, d.h. 175 Milliarden Euro, um die Schuldenquote auf 100% des BIP zu reduzieren, oder 2. eine Umwandlung der Schulden in neue Kredite mit sehr niedriger Verzinsung und einer drastischen Verlängerung der Rückzahlungstermine bis zu 50 Jahren.

Ein Schuldenschnitt ist technisch einfach und ökonomisch ehrlich. Er hat aber schwerwiegende Nachteile: Juristisch gilt er nach dem Maastricht-Vertrag als verbotene Staatsfinanzierung, aber auch ökonomisch bereitet er erhebliche Probleme, weil er die Haushalte der Euroländer und die Bilanzen der Europäischen Zentralbank (EZB) und des Internationalen Währungsfonds (IWF) direkt belastet. Deutschland würde mit einem Schlag etwa 45 Milliarden Euro verlieren, was immerhin 15% des Bundeshaushaltes ausmacht. Ein ausgeglichener Haushalt bliebe ein Traum. Die negativen Effekte sind so offensichtlich, dass man einen Schuldenschnitt den Steuerzahlern nur schlecht verkaufen könnte.

Aus diesen Gründen empfehle ich eine Umschuldung der griechischen Schulden in extrem niedrig verzinsliche Kredite mit sehr langer Laufzeit (bis zu 50 Jahren) und tilgungsfreien Anfangsjahren. Hierfür ist die Bundesrepublik Deutschland ein gutes Beispiel. Im Londoner Schuldenabkommen von 1953 wurden die deutschen Schulden nach Abkehr vom Goldstandard und Streichung der aufgelaufenen Zinsen auf rund 14 Milliarden DM festgelegt, d.h. 60% des damaligen Bundeshaushalts. Die Tilgung der Schulden sollte 1988 abgeschlossen sein, also nach 35 Jahren. Die letzte Rate zahlte Deutschland sogar erst im Oktober 2010, also nach 57 Jahren. Dies könnte ein Vorbild für die griechischen Zahlungsfristen sein.

Schließlich wird Griechenland bei so langen Zahlungszielen durch die in Zukunft zu erwartende Inflation begünstigt. Schon bei einer niedrigen jährlichen Inflationsrate von 2% verliert ein Kredit nach 25 Jahren knapp 40% an Wert, nach 50 Jahren  sogar 63%. Das erleichtert die griechischen Rückzahlungen in der Zukunft erheblich. Nimmt man dann noch an, dass Griechenland durch die jetzt beschlossenen  Reformen tatsächlich auf Wachstumskurs kommt, dann ist auch die Hoffnung der Euroländer, ihr geliehenes Geld nominell wieder zu bekommen, berechtigt.

 


Prof. Dr. Karl-Werner Hansmann


Varoufakis, ein Spieler
oder
Ökonomische Spieltheorie auf Griechisch

 

Hamburger Abendblatt vom 18. April 2015

Seit der Bildung der neuen linken Regierung in Griechenland haben die Medien hinlänglich über das teilweise skurrile Verhalten der griechischen Politiker bei den Verhandlungen mit der Eurogruppe berichtet. Neben den in zahlreichen Interviews dokumentierten schlechten Umgangsformen sind vor allem die griechischen Verhandlungsziele als unklar, sprunghaft und auch widersprüchlich wahrgenommen worden. Ich möchte versuchen, das scheinbar unberechenbare griechische Verhalten von einer anderen Seite zu beleuchten.

Der bei den Verhandlungen tonangebende griechische Finanzminister Yanis Varoufakis war seit 2000 Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Athen und hat sich in seiner wissenschaftlichen Laufbahn eingehend mit der Spieltheorie und ihrer Anwendung in der Ökonomie beschäftigt. Da die Spieltheorie schon vor Jahrzehnten das Thema meiner Diplomarbeit war und ich auch später spieltheoretische Wettbewerbs-Analysen durchgeführt habe, gilt mein Interesse der Frage, ob die Beschäftigung mit der Spieltheorie die Strategie von Varoufakis bei den Verhandlungen mit den Euro-Partnern geprägt hat. Dafür lassen sich in der Tat Anhaltspunkte finden.

Ohne auf die formalen mathematischen Grundlagen einzugehen, möchte ich die wichtigsten Zusammenhänge verständlich machen. Bei einem kooperativen Spiel haben die Spielpartner ein gemeinsames Ziel, z. B. durch geheime Preisabsprachen den Wettbewerb auf ihrem Markt einzuschränken und damit den Gewinn zu steigern. Verhandelt wird dann über die Aufteilung des zusätzlichen Gewinns. Ein berühmtes Beispiel ist das inzwischen löcherige Öl-Kartell der OPEC-Staaten, aber auch die nun erfolgreichen Atom-Verhandlungen der ständigen Sicherheitsrats-Mitglieder plus Deutschland mit dem Iran.

Ein solches kooperatives Spiel kam aber für die neue griechische Regierung mit Varoufakis nicht in Frage, da das gemeinsame Ziel "Finanzhilfe gegen Reformen unter der Kontrolle der Troika" sofort aufgekündigt wurde. Stattdessen begann die griechische Regierung ein nicht-kooperatives Spiel, das dadurch gekennzeichnet ist, dass die beiden Spielpartner kein gemeinsames Ziel haben sondern ohne Zusammenarbeit möglichst viel aus der Spielsituation für sich "herausholen" wollen. Ein solches Spiel ist meistens durch gegenseitiges Misstrauen und durch den Versuch geprägt, vermeintliche Schwächen des Spielpartners durch aggressive Strategien auszunutzen. Verfolgt in einem nicht-kooperativen Spiel ein Spieler eine aggressive und der andere eine defensive Strategie, so spricht man von einem Falken-Tauben-Spiel.

Es spricht einiges für die Annahme, dass die neue griechische Regierung die Falken-Strategie gewählt hat, weil sie noch davon ausgeht, dass die Eurogruppe die Tauben-Strategie verfolgen würde, Griechenland um jeden Preis im Euro zu halten. Das spieltheoretische Ergebnis wäre dann ein maximaler Erfolg für Tsipras und Varoufakis: Finanzhilfen ohne Gegenleistung und Rauswurf der Troika. Doch die Eurogruppe, vor allem Finanzminister Schäuble, verhält sich nicht wie eine Taube.

Es wäre aber auch nicht gut für Europa, nun die reine Falken-Strategie zu wählen, die darin bestehen würde, Griechenland durch sofortigen Stopp der Finanzhilfen in den Staatsbankrott zu treiben. Ein solches Falke-Falke-Spiel ist auch als "Tit-For-Tat" oder "Wie du mir, so ich dir" bekannt und führt spieltheoretisch für beide Spieler zum schlechtesten Ergebnis.

Was sollte die Eurogruppe tun? Sie muss Varoufakis von seiner Falken-Strategie abbringen, indem sie ihn überzeugt, dass sie die Tauben-Strategie auf keinen Fall übernehmen wird. Dafür hat sich bei meinen anderweitigen Analysen die "Tit-For-2-Tats"-Strategie bewährt. Sie bedeutet: Man beantwortet eine aggressive Strategie beim ersten Mal defensiv, um dem Partner Zeit zu geben, von seiner Strategie abzurücken. Bleibt er aber weiter aggressiv, dann reagiert man ebenso.

Die Eurogruppe sollte daher die griechischen Reformvorschläge weiter ernsthaft prüfen. Sollten jedoch Tsipras und Varoufakis bis Ende April ihre Falken-Strategie nicht ändern und echte Reformen weiterhin verweigern, sollte die Eurogruppe endgültig jede Finanzhilfe ablehnen. Ich bin ziemlich sicher, dass Varoufakis diese spieltheoretische Euro-Strategie verstehen und sich im letzten Moment zur Taube wandeln wird.

 

 

Prof. Dr. Karl-Werner Hansmann

 

Mario Draghis Aberglauben

 

Der EZB-Chef glaubt, mit einer geheimen Strategie Inflation und Wachstum beeinflussen zu können

 

 

Hamburger Abendblatt vom 10. Dezember 2014

 

Vor kurzem  hat der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) Mario Draghi in Frankfurt eine Grundsatzrede über die geldpolitische Strategie der EZB gehalten, die sich dadurch auszeichnet, dass die wichtigsten Ziele der EZB gar nicht offen genannt wurden. Das wird unterstrichen durch seine gleich lautenden Äußerungen  auf der Pressekonferenz nach der Dezember-Sitzung des EZB-Rates.

 

Draghi wiederholt in beiden Reden die seit längerem bekannte Sorge der EZB, dass die Eurozone in eine Deflations-Spirale mit anschließender Rezession wie in Japan rutschen könnte. Daher soll die Inflationsrate der Eurozone von aktuell 0,3 Prozent auf zwei Prozent angehoben werden. Das kann die Zentralbank aber nicht verordnen, sondern sie muss versuchen, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage durch Anreize so zu steigern, dass sich die Inflationsrate in die gewünschte Richtung bewegt. Für solche Anreize hat die EZB zwei Instrumente, nämlich Zinssenkung und Erhöhung der Geldmenge. Da die Zinsen schon bei null Prozent angekommen sind, ist das erste Instrument inzwischen stumpf. Daher hat Draghi die Absicht der EZB bekräftigt, die Geldmenge in der Eurozone durch Ankauf von Wertpapieren um eine Billion (eintausend Milliarden) Euro auszuweiten.

Welche Wertpapiere werden nun von der Zentralbank angekauft? Man hat sich als erstes für sog. Covered Bonds, das sind vorwiegend durch Immobilien gedeckte Schuldverschreibungen von Banken (in Deutschland z.B. Pfandbriefe) entschieden. In den ersten beiden Wochen wurde von diesen Wertpapieren ein Volumen von gut fünf Milliarden Euro angekauft. Rechnet man dies auf das nächste Jahr hoch, kommt man für 2015 auf etwa 130 Milliarden Euro.

Zusätzlich werden die aus der Finanzkrise hinlänglich bekannten Asset-Backed Securities (ABS), also forderungsgesicherte Wertpapiere, die ein Bündel verschiedener Kredite (Leasingkredite, Autokredite, aber auch Hypotheken) enthalten, von der EZB angekauft. Obwohl die europäischen ABS von viel besserer Bonität als die ehemaligen "Schrottpapiere" aus den USA sind,  ist das Marktvolumen dieser Wertpapiere stark zurückgegangen und beträgt in diesem Jahr nach Schätzungen von Banken weniger als 100 Milliarden Euro. Die EZB hat nach eigenen Angaben in der ersten Woche ABS-Papiere im Volumen von 368 Millionen Euro gekauft. Schätzungen namhafter internationaler Banken kommen für 2015 auf 100 Milliarden Euro, was ich für zu hoch halte, da die EZB nur besonders bonitätsstarke ABS-Papiere kaufen will, die Banken aber gerade diese nicht gern abgeben werden. Der Ankauf beider Wertpapierarten wird weniger als 200 Milliarden Euro bringen und reicht somit bei weitem nicht aus, um das angestrebte Ziel von einer Billion Euro zu erreichen.

Das scheint auch der Präsident der EZB so zu sehen, denn er öffnet in seiner Rede gleich zwei Hintertürchen:  Zum einen trägt er reichlich nebulös vor, die EZB habe die technischen Vorbereitungen zur Umsetzung  "weiterer" zu ergreifender Maßnahmen bereits getroffen. Zum anderen will er - falls die jetzt beschlossenen Maßnahmen nicht genügend wirken - die "Zusammensetzung" der Aufkäufe ändern. Das klingt orakelhaft, doch kann es sich bei den zusätzlichen Wertpapieren nur um Unternehmens- und vor allem Staatsanleihen der Euroländer handeln, weil nur deren Volumen groß genug ist, um eine Billion Euro zu erreichen.

Geschickt vermeidet es Draghi, sich auf den Kauf von Staatsanleihen festnageln zu lassen, hält das aber nicht für verbotene Staatsfinanzierung. Obwohl diese Auffassung umstritten ist, bin ich mit vielen Fachleuten der Meinung, dass der Tabubruch im Frühjahr 2015 vollzogen wird. Damit setzt die EZB auf eine verhängnisvolle Strategie, die nicht nur bedenklich ist, sondern auch wirkungslos bleiben wird, wie die Beispiele Japan und USA deutlich zeigen.

Die Bank of Japan hat seit 2012 die Geldmenge verdoppelt und Staatsanleihen in Höhe von einer Billion Euro aufgekauft, während das Wirtschaftswachstum gleichzeitig von 3,1 Prozent auf -1,1 Prozent eingebrochen ist. Die US-Notenbank  hat ihre Geldmenge seit 2012 sogar um zwei Billionen Dollar erhöht, doch zeigt meine ökonometrische Analyse, dass weder die Inflationsrate noch die Wachstumsrate der Wirtschaft davon positiv beeinflusst wurden. Dass diese Strategie nun ausgerechnet in der Eurozone wirken soll,  halte ich schlicht für Aberglauben.

 

 

 

Prof. Dr. Karl-Werner Hansmann


Unsere Vermögen sind sehr ungleich verteilt


Hamburger Abendblatt vom 18. August 2014


Seit einigen Monaten erregt ein Buch des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty ungewöhnliches Aufsehen in den Vereinigten Staaten. Es handelt sich um die englische Übersetzung eines Werkes, das Piketty ein Jahr zuvor auf Französisch veröffentlicht hatte und mit dem er nun unter dem englischen Titel "Capital in the 21st Century" die amerikanischen Bestsellerlisten stürmte. Darin versucht der Autor nachzuweisen, dass die von Karl Marx im 19. Jahrhundert beobachtete und bis zum 1. Weltkrieg für Westeuropa und die USA statistisch belegte "Konzentration des Kapitals in wenigen Händen" seit 1980 wieder erheblich zugenommen hat und im 21. Jahrhundert einen neuen Höhepunkt erreichen wird.
Zum Beweis seiner Thesen hat Piketty in über zehnjähriger mühseliger Kleinarbeit Daten aus Vermögen- und Einkommensteuer-Aufzeichnungen der statistischen Ämter zusammengetragen, die z.T. bis 1770 zurückreichen. Da nicht alle westlichen Länder solche langen Datenreihen haben, konzentriert er sich vor allem auf die USA, Großbritannien, Deutschland und Frankreich. Schon das hierfür erhobene Datenvolumen ist beeindruckend und in solcher Fülle bisher nicht vorhanden. Es wirft aber auch Fragen auf. Wie zuverlässig ist die Verarbeitung der Vermögens- und Einkommensdaten bei den statistischen Ämtern? Kann man überhaupt Finanzdaten aus zwei Jahrhunderten vergleichen?
Diese Fragen können hier nur pauschal beantwortet werden. Die Seriosität der statistischen Ämter muss man voraussetzen, schließlich werden ihre Zahlen ständig von Politik und Wirtschaft verwendet. Die Vergleichbarkeit der Daten habe ich durch Plausibilitätsüberlegungen überprüft. Die Daten in außergewöhnlichen Zeiträumen (Weltkriege, Weltwirtschaftskrise usw.) haben die erwarteten Werte und zeigen keine Ungereimtheiten.
Piketty's Daten ergeben folgendes Bild: Das Privatvermögen war vor dem ersten Weltkrieg in den USA und Europa extrem ungleich verteilt: Die "reichen" 10% der Bevölkerung, vor allem Aristokraten und Industrielle, besaßen 1910 in den USA 80% und in Europa 90% des Privatvermögens. Durch die beiden Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise ab 1930 wurde ein Teil dieser Vermögen vernichtet, so dass der Anteil der Reichen auf unter 60% sank. Diese Vermögensverteilung blieb bis etwa 1980 erhalten, stieg dann aber wieder kontinuierlich an und erreichte 2010 in den USA 73% und in Europa 64%. Piketty führt den stärkeren Anstieg in den USA auf die neo-liberale Politik der Präsidenten Reagan und Bush mit ihrer gewaltigen Einkommensteuer-Senkung auf die Hälfte zurück. Dies wird gestützt durch die Tatsache, dass die obersten 10% der amerikanischen Einkommensbezieher ihren Anteil am Volkseinkommen im gleichen Zeitraum von 36% auf knapp 50% steigern konnten.
Die damalige Behauptung von Bush, die Steuersenkungen würden das Wirtschaftswachstum steigern und dadurch auch der Mittelstand profitieren, konnte ich durch eine ökonometrische Analyse mit den Daten von Piketty ins Reich der Fabel verweisen. Weder die Steuererleichterungen noch die Vermögens- und Einkommenszuwächse der oberen 10% haben das Wirtschaftswachstum der USA seit 1980 beflügelt.
Betrachtet man alle Daten Piketty's, so lässt sich feststellen, dass die Länder mit dem "angelsächsischen" Kapitalismus eine rasante Umschichtung des Vermögens und der Einkommen auf die oberen 10% erleben, während Kontinentaleuropa und auch Deutschland ein moderateres Bild abgeben, aber die gleiche Richtung einschlagen. Piketty sieht mit dieser Entwicklung den Zusammenhalt der Gesellschaft in unseren Ländern und damit die Demokratie gefährdet. Er schlägt daher eine drastische Erhöhung der Spitzensteuersätze der Einkommen-, aber vor allem der Erbschaftsteuer vor, um Einkommen und Vermögen stärker an Leistung und nicht an Vererbung zu binden.
Darüber muss man nachdenken. Wir sind einerseits von der Evolution auf die Vererbung unserer genetischen und auch finanziellen Ressourcen geprägt, so dass eine sehr hohe Erbschaftsteuer gesellschaftlich nicht konsensfähig ist. Andererseits können in Deutschland praktisch steuerfrei riesige Unternehmensvermögen vererbt werden, wenn das Unternehmen einige Jahre fortgeführt wird und Arbeitsplätze erhalten bleiben. Das geht auch nicht. Hier muss die Politik für einen besseren Interessenausgleich sorgen.

 

 

Prof. Dr. Karl-Werner Hansmann 

Die Strategie der EZB  -  ein Strohfeuer

Hamburger Abendblatt vom 20. Juni 2014

Vor Kurzem hat der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) gravierende Maßnahmen beschlossen, um ein angebliches Deflationsrisiko im Euroraum  zu bekämpfen. Der Zinssatz, zu dem Banken Kredite von der EZB bekommen, wurde auf 0,15% gesenkt, und für Einlagen bei der EZB müssen die Banken jetzt sogar einen Strafzins von 0,1% bezahlen. Schwerwiegender ist jedoch die Ankündigung der EZB, im Herbst den Banken 400 Milliarden Euro neues Geld anzubieten, das diese für Kredite an die Wirtschaft verwenden sollen.

Hinter beiden Maßnahmen steckt die Absicht, die Inflationsrate im Euroraum von heute 0,5% auf etwa 2% hochzuziehen. Warum verfolgt die EZB ausgerechnet dieses Ziel?  Wir haben doch gelernt, dass eine steigende Inflation etwas Schlechtes ist.

Der Grund liegt in der Angst der EZB vor einer Deflation und der damit verbundenen Schrumpfung der Wirtschaft. Wenn die Preissteigerungsrate immer geringer wird und sich dem Nullpunkt nähert, können Konsumenten und Investoren auf den Gedanken kommen, dass die Preise weiter sinken. Dann wäre es für sie besser, mit Anschaffungen noch zu warten. Diese Kaufzurückhaltung könnte  jedoch zu einer Abwärtsspirale mit weiter sinkenden Preisen und einem Konjunktureinbruch, d.h. zur Deflation führen. Das ist seit 1990 in Japan zu beobachten. Die Zinsverbilligung und die Geldschöpfung sollen nach dem Willen der EZB die sinkende Inflationsrate stoppen und sie auf 2% ansteigen lassen. Gleichzeitig erwartet die EZB, dass die Banken durch stärkere Kreditvergabe die Unternehmen anreizen,  mehr zu investieren und damit das Wachstum der Wirtschaft zu verbessern.

Diese lehrbuchmäßige Wirkungskette funktioniert aber nur dann, wenn alle einzelnen "Kettenglieder" die gewünschte Wirkung aufweisen. Durch Analyse der bisherigen Entwicklung kann man jedoch zeigen, dass dies an entscheidenden Stellen nicht der Fall ist. Die Geldschöpfung der EZB, gemessen an ihrer Bilanzsumme, hatte auf die Inflationsrate im Euroraum überhaupt keine Wirkung. Das sieht man schon daran, dass die Inflationsrate seit 2011, also nach der Finanzkrise im Euroraum erheblich zurückge- gangen ist, obwohl die EZB zeitweise über eine Billion Euro  neues Geld geschaffen hatte, dann aber - wahrscheinlich auf Druck der Bundesbank - von dieser ultra-lockeren Geldpolitik wieder abrückte. Auch die US-Zentralbank Fed pumpte anderthalb Billionen Dollar in die Banken, ohne dass die Inflationsrate davon beeinflusst wurde. 

Mit Hilfe einer ökonometrischen Analyse kann man zeigen, dass ganz andere Faktoren als die Geldmenge die Inflationsrate bestimmen: in erster Linie die Kapazitätsauslastung der Unternehmen und die Lohnstückkosten.  Das lässt sich auch ökonomisch erklären. Eine hohe Auslastung ihrer Kapazitäten zeigt den Unternehmen, dass sie gute Absatzmöglichkeiten haben, d.h. dass die Nachfrage nach ihren Produkten hoch ist. Dann lassen sich auch höhere Lohnkosten leichter auf die Absatzpreise überwälzen, so dass die Inflationsrate steigende Tendenz hat. Das gilt natürlich auch umgekehrt. Seit der Finanzkrise erlauben  unzureichende Kapazitätsauslastung und Lohnzurückhaltung bis heute keinen Spielraum zur Durchsetzung von Preissteigerungen, so dass die Inflationsrate sinkt. Die Geldschöpfung der EZB wird daran nichts ändern können.

Die zweite Frage ist: Kann die Geldschöpfung der EZB die Kreditvergabe der Banken an die Wirtschaft verbessern und damit Wachstumsimpulse geben?  Auch diese Frage muss ich leider verneinen. Man kann seit dem Abklingen der Finanzkrise ökonometrisch keinen Zusammenhang zwischen der Geldschöpfung der EZB und dem Kreditvolumen im Euroraum feststellen. Auch das lässt sich ökonomisch erklären. Durch die Konsolidierungsmaßnahmen in den südeuropäischen Ländern ist die Konsum- und Investitionsneigung erheblich gedämpft worden. Dadurch wurden auch weniger Kredite aufgenommen mit der Folge, dass das Kreditvolumen im Euroraum seit Oktober 2011 um 6% zurückgegangen ist.

Es ist deshalb zu erwarten, dass die drastische Geldschöpfung der EZB ins Leere läuft und das Geld stattdessen in den Aktien- und Immobilienmärkten landen wird. Der Deutsche Aktienindex (DAX) richtet sich darauf ein und ist heute schon 15% höher als ökonomisch gerechtfertigt.

 

 

 

 

Prof. Dr. Karl-Werner Hansmann 

Brauchen wir ein transatlantisches Freihandelsabkommen?  

in:  Hamburger Abendblatt vom 10.05.2014

Die seit Juli 2013 stattfindenden geheimen Verhandlungen zwischen der EU und den USA über eine "Transatlantische Freihandels- und Investitionspartnerschaft" (TFIP oder englisch TTIP) sind in den Medien emotionsgeladen  diskutiert worden. Eine genauere Analyse der ökonomischen Prognosemodelle, die nach Meinung der EU-Kommission  klare Vorteile des geplanten Abkommens zeigen, und ein "geheimes" Verhandlungspapiers der EU lassen nun eine besser fundierte Beurteilung zu.

Was spricht für ein solches Abkommen?   Zunächst die Tatsache, dass die EU selbst als Freihandelszone  begonnen hat und unsere Erfahrungen ja nicht schlecht sind. Doch der jetzige Fall liegt anders. Schon jetzt sind die Zölle zwischen der EU und den USA mit durchschnittlich 3,5%  sehr niedrig und das gegenseitige Handelsvolumen bewegt sich auf hohem Niveau. Auf  beide zusammen entfällt bereits jetzt knapp 50%  des Welthandels, aber beide wollen mehr.

Dahinter steckt die Angst, von China und anderen aufstrebenden Ländern wirtschaftlich überholt zu werden. Außerdem möchte die EU-Kommission noch vor ihrem Abgang im Herbst einen medienwirksamen Erfolg verbuchen. Daher stellt sie auf ihrer Internetseite die angeblichen Vorteile des Abkommens heraus, nämlich ein zusätzliches jährliches Wachstum der EU von 120 Mrd. Euro und "hundertausende neue Arbeitsplätze". Sie stützt sich dabei auf  von ihr in Auftrag gegebene  wissenschaftliche Studien, die den Abbau von Handelshemmnissen auf Grund unterschiedlicher Gesundheits-, Umwelt- und Arbeitsvorschriften  in Geld bewerten und in Wachstums- und Arbeitsplatzgewinne umrechnen. Das ist problematisch.

Die in den Studien angewandten Simulationsmodelle sind zwar methodisch korrekt und auf dem aktuellen wissenschaftlichen Stand, reagieren  jedoch auf Grund der verwendeten nichtlinearen Gleichungen äußerst empfindlich auf die von außen getroffenen Modellannahmen.
Eine solche Annahme ist z.B. die Antwort auf die Frage:  Um wie viel Euro steigt das Handelsvolumen zwischen EU und USA, wenn Gesundheits-, Umwelt- und Arbeitsstandards abgesenkt werden? Da dies nicht direkt messbar ist, muss eine plausible Annahme in das Modell eingegeben werden. Entsprechend unsicher sind die Modellergebnisse. Die Aussagen der EU-Kommission über die ökonomischen Vorteile des Freihandelsabkommens stehen daher auf sehr wackeligen Füßen.

Demgegenüber sind die Gefahren des Abkommens durch die Veröffentlichung des geheimen Strategiepapiers der EU-Kommission deutlich geworden. Ich möchte das an zwei Problemkreisen aufzeigen.

Erstens:  Die Kommission will  auf der Grundlage der obigen Modellergebnisse  alle rechtlichen Handelshemmnisse, die durch unterschiedliche Gesundheits-, Arbeits- und Umweltvorschriften verursacht werden, beseitigen. Dies soll durch Angleichung der Vorschriften der beiden Partner erreicht werden. Im EU-Jargon heißt das "regulatorische Kompatibilität" und bedeutet im Klartext, dass zwischen strengeren und weniger strengen Vorschriften ein Kompromiss gefunden werden soll.  Da die EU im Umwelt- und Arbeitsrecht, sowie z.T. auch im Gesundheitsrecht strengere Vorschriften als die USA hat, würden die europäischen Standards am Ende der Verhandlungen zwangsläufig aufgeweicht, was nicht in unserem Interesse liegen kann.

Zweitens sollen Investoren durch das Abkommen vor staatlichen Entscheidungen des Partnerlandes geschützt werden. Unternehmen können vor privaten internationalen Schiedsgerichten, die vor allem mit Wirtschaftsanwälten besetzt sind, gegen Staaten klagen, wenn sie glauben, dass durch neue Gesetze ihre Gewinne beeinträchtigt werden.  Dies Verfahren machte früher Sinn, wenn z. B. ein Handelsabkommen mit Entwicklungsländern, die durch ein mangelhaftes Rechtssystem oder durch staatliche Willkür gekennzeichnet waren, abgeschlossen wurde. Bei hoch entwickelten Gesellschaften ist das jedoch überflüssig und birgt die Gefahr in sich, dass Unternehmen ständig mit Klagen drohen und damit die parlamentarische Gesetzgebung einzelner Staaten unter Druck setzen.

Ich halte die gezeigten Nachteile für so gravierend, dass sie die fragwürdigen ökonomischen Vorteile bei weitem überwiegen. Daher lehne ich ein transatlantisches Freihandels- und Investitionsabkommen auf der Grundlage der Vorstellungen der EU-Kommission ab.